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Bericht vom ECTRIMS 2017



Auch der diesjährige ECTRIMS war wieder gekennzeichnet durch einen rekordverdächtig hohen Besucherandrang (mehr als 10.000 registrierte Teilnehmer) und ein dicht gepacktes Programm mit zahlreichen parallelen Veranstaltungen zu allen denkbaren Aspekten der MS, von den Grundlagen bis hin zu (in ganz unterschiedlichen Stadien der Entwicklung befindlichen) neuen Medikamenten. So war man natürlich gezwungen, eine Auswahl zu treffen, sich seine eigenen Schwerpunkte zu setzen und sein persönliches Kongressprogramm zusammenzustellen.

Eröffnet wurde der Kongress mit einem Übersichtsvortrag des Wiener Neuropathologen Hans Lassmann, der seine einflussreichen Forschungen zum Krankheitsverlauf zusammenfasste und insbesondere nochmals verdeutlichte, dass sich die grundlegenden Mechanismen der MS im Ablauf der Erkrankung ändern: Zunächst dominiert die umschriebene Entzündungsaktivität ("fokale Inflammation") in der weißen Substanz (auch Marklager genannt), die von aus dem Blut stammenden und in das Gehirn übertretenden Immunzellen ausgelöst wird und den in der MRT sichtbaren "Herden" entspricht. Diese können sich besonders zu Beginn der Erkrankung durch Reparaturvorgänge, also einen Wiederaufbau der Myelinschicht (Remyelinisierung) zumindest teilweise erholen. Später, in der Phase der fortgeschrittenen MS, stehen eine diffuse Entzündung des Gehirns, eine zunehmende Ausprägung von Läsionen in der Hirnrinde (Cortex) und eine Erschöpfung der Erholungskapazität des Nervensystems im Vordergrund. Dies äußert sich dann als fortschreitende Behinderung. Unsere heutigen Medikamente funktionieren sehr gut in der Phase des schubförmigen Verlaufs - deswegen ist es sinnvoll, die Erkrankung von Beginn an konsequent zu behandeln, um die Entzündungsaktivität effektiv zu beeinflussen und dadurch auch die in ihrem Gefolge auftretenden degenerativen Schädigungen zu minimieren. Später, in der Phase der fortgeschrittenen MS, wirken die heutigen Therapien nämlich nicht mehr überzeugend, auch weil die beschriebenen Krankheitsprozesse sich nunmehr hinter einer überwiegend intakten Blut-Hirn-Schranke abspielen und dehalb nur eingeschräkt erreichbar und beeinflussbar sind.

Daraus wird bereits ersichtlich, dass es für den Bereich der fortgeschrittenen MS erheblichen Bedarf an neuen Therapien gibt. Um diesem Mangel zu begegnen, hat sich ein Netzwerk zusammengefunden (Progressive MS Alliance), das sich zum Ziel setzt, die Entwicklung neuer Medikamente zu beschleunigen und kostengünstiger zu gestalten. Ein möglicher Ansatz hierfür ist der Versuch, bereits in anderen Gebieten zugelassene Medikamente für MS einzusetzen, wenn man an ihnen interessante (z.B. immunologische) Aspekte entdeckt. Hierzu gibt es bereits Studien mit dem Fettsenker Simvastatin oder dem Antibiotikum Minocyclin. Aktuell vorgestellt wurden Studienergebnisse zu Ibudilast (einem Asthmamittel) mit einem ausgeprägt positiven Effekt auf die Hirnatrophie und somit Hinweisen auf ein neuroprotektives Potenzial der Substanz. Ob solche Medikamente dann tatsächlich auch einen fassbaren klinischen Nutzen haben, bleibt allerdings in zukünftigen Untersuchungen zu klären. Nur dann könnte längerfristig mit einer Marktzulassung gerechnet werden.

In Bezug auf immunmodulatorische Therapien waren hauptsächlich Informationen zu mittelfristig zu erwartenden Substanzen zu erhalten. Hier können vor allem Substanzen erwähnt werden, die in der Wirkweise Fingolimod ähneln und die als S1P-Modulatoren bezeichnet werden (Ponesimod, Ozanimod und Siponimod). Am weitesten in der Entwicklung fortgeschritten ist Siponimod - hier ist auf der Grundlage von abgeschlossenen Studien zur schubförmigen und sekundär-progredienten MS bereits die Zulassung bei den Behörden eingereicht. Vorgestellt wurden jetzt Studienergebnisse aus zwei großen Phase 3-Studien mit Ozanimod, das sich der Vergleichssubstanz Beta-Interferon als überlegen erwies. Damit scheinen letztlich alle Substanzen dieser Gruppe für die schubförmige MS eine vergleichbare Wirksamkeit zu haben, und es bleibt die Frage, ob sich die (kardiale) Sicherheit unterscheidet. Darüberhinaus wäre auch die Zulassung von Siponimod für die SPMS interessant.

Eine spannende Entwicklung stellt die Erforschung der Biomarker dar. Hierunter versteht man messbare biologische Merkmale, die als Indikatoren für eine Erkrankung benutzt werden können.
Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Neurofilamente, die zu den Strukturbestandteile der Axone gehören. Bei einer Schädigung von Axonen werden diese Neurofilamente freigesetzt und sind im Nervenwasser und sogar im Blut messbar. Damit hat man prinzipiell eine Möglichkeit, das Ausmaß des Nervenschadens zu beurteilen, was z.B. für eine Abschätzung der Prognose, aber auch für eine Verlaufsbeobachtung unter Therapie eine äußerst attraktive Option wäre - so könnte ein Rückgang der Neurofilament-Konzentration als Beleg für eine Wirksamkeit der Behandlung dienen. Die Messung der Neurofilamente ist allerdings aufwändig und keinesfalls in jedem Labor durchführbar. Insofern ist dies keine Routineuntersuchung, sondern bleibt vorerst im wissenschaftlichen Bereich.

Viel beachtet und diskutiert wurden auch die Vorschläge für eine Aktualisierung der Diagnosekriterien der MS, die seit vielen Jahren anhand der sogenannten McDonald-Kriterien erfolgt, die sich wiederum auf eine Kombination aus klinischen, kernspintomographischen und Liquorbefunden stützt. Hier ist bemerkenswert, dass die Rolle der Liquoranalyse wieder gestiegen ist, was für uns in Europa prinzipiell kein Problem ist (da praktisch bei jedem Patienten eine Lumbalpunktion erfolgt), in den USA aber Schwierigkeiten aufwerfen könnte, da dort kaum auf die Liquordiagnostik zurückgegriffen wird.

Eine Alternative zur klassischen Hörsaalatmosphäre bot das Google Hangout, das als lockeres Gespräch zweier Londoner MS-Experten über aktuelle Themen des ECTRIMS geführt wurde und auf einem YouTube-Kanal verfügbar ist. Sehr empfehlenswert, allerdings natürlich auf englisch.

Dr. B. Kukowski, Göttingen
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