Dr. med. Borries Kukowski
Arzt für Neurologie und Psychiatrie
Göttingen
Der 31. Internationale MS-Kongress ECTRIMS
fand vom 07.-10.10.2015 in Barcelona statt und war mit mehr als 9000 Teilnehmern besser besucht als je zuvor. MS-Experten aus aller Welt haben sich getroffen, um sich über neue Erkenntnisse aus allen Bereichen der MS-Forschung auszutauschen und zu informieren. Eine Zusammenfassung zu geben ist aufgrund der überwältigenden Menge an Informationen sehr schwierig, zumal es immer gilt, zwar interessante, aber doch sehr vorläufige Erkenntnisse, die durch weitere Untersuchungen erst noch bestätigt werden müssen, nicht überzubewerten und sich - gerade auch aus Ihrer Sicht als MS-Betroffene - auf das zu konzentrieren, was schon recht konkret am Horizont als Therapie oder zumindest als Strategie für zukünftige Behandlungsansätze gelten kann.
Aus meiner Sicht besonders wichtig war die Präsentation der Studiendaten zu dem Wirkstoff Ocrelizumab, die tatsächlich auch ein immenses Interesse hervorgerufen haben. Es handelt sich hierbei um einen sogenannten monoklonalen Antikörper gegen die Struktur CD-20 auf den B-Zellen des Immunsystems, der in Abständen von 24 Wochen infundiert wird. Die Studien OPERA I und OPERA II wurden an Patienten mit schubförmiger MS durchgeführt, liefen über 72 Wochen und hatten als Vergleichsgruppe kein Placebo, sondern eine anerkannt wirksame Therapie, nämlich Interferon beta-1a 3x44 µg. Hauptsächlicher Zielpunkt der Studie war, wie üblich, die jährliche Schubrate, die durch Ocrelizumab im Vergleich zum Interferon um 46% (OPERA I) bzw. 47% (OPERA II) vermindert werden konnte, was einer sehr starken Wirksamkeit entspricht. Auch für die weiteren Endpunkte wie die Vermeidung der Behinderungszunahme und die Abnahme entzündlicher MRT-Aktivität zeigten sich hochpositive Ergebnisse. Von größter Bedeutung ist natürlich auf der anderen Seite das Risikoprofil einer solchen Substanz, das sich nach den vorgestellten Daten ausgesprochen günstig darstellt.
Noch größer war das Interesse am letzten Tag des Kongresses, als die Ergebnisse der ORATORIO-Studie mit Ocrelizumab bei der primär-progredienten MS (PPMS) vorgestellt wurden. Auch diese Studie hat ihren Endpunkt (Verminderung der Behinderungsprogression) erreicht, so dass Ocrelizumab die erste Substanz ist, die für die therapeutisch bislang nicht zugängliche PPMS eine Wirksamkeit dokumentiert hat. Im Einzelnen bleiben hierzu zunächst aber noch viele Fragen offen, was etwa die Größe des Effektes angeht.
Ein weiteres Thema, das viel Aufmerksamkeit gefunden hat, waren Strategien zur Neuroprotektion und Remyelinisierung. Die dahinter stehende Frage ist dabei, wie man Nervenzellen vor den mit MS assoziierten Schäden schützen oder (bei bereits eingetretenem Schäden) die Reparaturvorgänge unterstützen bzw. fördern kann. Diese sehr wünschenswerten Ansätze stecken aber doch noch deutlich in den Anfängen. Am weitesten in der Entwicklung ist der monoklonale Antkörper anti-LINGO, der eine Struktur hemmt, die wiederum den Wiederaufbau der Myelinschicht unterdrückt. Wenn man also einen hemmenden Einfluss hemmt, kommt dabei (hoffentlich) eine Zunahme heraus! Erste Ergebnisse gibt es bereits für die Behandlung der Optikusneuritis. Eine Studie an Patienten mit RRMS läuft.
Außerdem wird die neuroprotektive Fähigkeit weiterer Substanzen bei progressiver MS geprüft, z.B. in der sogenannten MS-SMART-Studie mit Einsatz von mehreren bereits langjährig aus anderen medizinischen Indikationen bekannten Substanzen oder auch in der SPRINT-MS-Studie mit Ibudilast. Hier kann aber mit Ergebnissen erst in einigen Jahren gerechnet werden.
Hoch interessant (und eigentlich ganz naheliegend) ist der Ansatz, während eines Schubes akut neuroprotektiv einzugreifen. Man hat dies mit dem alten Epilepsiemedikament Phenytoin bei Patienten mit Sehnerventzündung probiert und durchaus ermutigende erste Ergebnisse erzielt (gemessen wurde die Dicke der Nervenzellschicht am Augenhintergrund).
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass es es sich bei allen hier vorgestellten Daten um Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und Diskussion handelt. Es geht hier also nicht um konkrete Behandlungsoptionen oder gar -empfehlungen, sondern ausschließlich um mein Angebot, Sie über die aktuelle Forschung zu informieren.
Blick in den voll besetzten riesigen Saal A.